Eine Manipulation des Newsfeeds zu wissenschaftlichen Zwecken provozierte kürzlich Aufregung über das soziale Netzwerk. Dabei wird schon lange auf Facebook geforscht – nur bislang fast unbemerkt.
Adam Kramer scheint ein lustiger Vogel zu sein. Auf dem Profilbild bei Facebook trägt der “Muffin der Gefahr”, wie er sich dort auch nennt, enges Hawaihemd und überdimensionierte Sonnenbrille, die am Ansatz schon etwas zurück gewichenen Haare steil nach oben frisiert. Dazu reißt er den Mund auf, in etwa so wie Kermit der Frosch. Die “Muppets” sind den auch einer seiner angegebenen Lieblingsfilme, ebenso wie “Dumm und dümmer” und ein Dokumentarfilm über rollschuhfahrende Frauen.
Doch in den vergangenen Wochen ist dem Psychologen aus der Wissenschaftsabteilung “Data Science” bei Facebook, das Lachen vergangen. Zusammen mit zwei Wissenschaftlern hochrangiger US-Universitäten hatte Kramer im Fachjournal “PNAS” eine Studie veröffentlicht, die einen Sturm der Entrüstung auslöste. Fast 700.000 Facebook-Nutzer waren im Januar 2012 eine Woche lang in ein Experiment verwickelt gewesen, bei dem ihre Stimmung ganz bewusst manipuliert wurde – ohne dass man sie darüber informiert hatte.
Das ist nicht das erste Mal, dass das soziale Netzwerk wissenschaftliche Studien an ihren Nutzern betreibt, seit es vor zehn Jahren online gegangen ist – nur war das vielen Facebook-Liebhabern bisher nicht bewusst. Die neue Studie aber ließ viele aufhorchen. Nicht nur die Marktforschung, auch die Wissenschaft verfolgt und zerpflückt routinemäßig persönliche Einträge, Freundschaften und Status-Updates.
Neben der Verwirrung, was Forscher an den Facebook-Daten so brennend interessiert, steht nun für viele auch die Frage im Raum, ob es legitim und rechtens ist, wie sie diesen Interessen nachgehen – bei Experimenten, in denen den Forschern ein Pool von gut 1,3 Milliarden Nutzern weltweit zur Verfügung steht. Kramer jedenfalls hat die Aufregung um seine Studie wohl nicht vorhergesehen.
Facebook liefert komplexe Daten in Echtzeit
Er arbeitet schon lange als Data Scientist bei Facebook, nach einer forschungsorientierten Ausbildung an guten US-Unis. Er studierte Logik an der Carnegie Mellon University und machte seinen Doktor auf dem Gebiet der Entscheidungsfindung an der University of Oregon. “Facebook-Daten bilden die größte Feldstudie in der Geschichte der Menschheit”, jubelt er auf der Facebook-Seite des Data-Science-Teams. “Grundsätzliche Fragen über die ganze Welt zu stellen und sie beantworten zu können, das ist sehr sehr aufregend für mich.”
Das sehen auch viele andere Wissenschaftler so. Facebooks riesiger Datenpool liefert ihnen komplexe Verhaltensdaten in Echtzeit – darunter viele, die im Labor und selbst in Beobachtungsstudien im ganz realen Leben nur schwer einzufangen wären. Wie beispielsweise eine Freundschaft beginnt, sich langsam über die Zeit zu entwickelt und was sie von einer Bekanntschaft oder einer romantischen Beziehung unterscheidet, das kann keine Untersuchung in einem Schwung so genau abbilden, wie es das Kommunikationsverhalten auf Facebook ganz automatisch tut.
Wie sich politische Ideen in Gruppen verbreiten, wer dabei Katalysator ist und wer beeinflussbarer Empfänger: Das geht nirgendwo besser als auf Facebook. Auch wie sich Persönlichkeitsmerkmale, zum Beispiel Extraversion, emotionale Stabilität oder Gewissenhaftigkeit im Sprachgebrauch widerspiegeln, lässt sich bei Facebook viel leichter beobachten als im Labor. Denn dort kann man all dies untersuchen, ohne dem Betreffenden auch nur eine Frage stellen zu müssen.
Mit solchen eher indirekten Methoden Gedanken, Gefühle und Verhalten zu erfassen, das gilt in der Forschung inzwischen als weitaus verlässlicher als der traditionelle Fragebögen. Denn wo man dort sein Kreuzchen setzt, wird, wie Studien zeigen, zu fast 80 Prozent allein von der momentanen Stimmung beeinflusst. Hinzu kommt noch der Wunsch, nicht schlecht dazustehen – Versuchsteilnehmer antworten deshalb eher sozial erwünscht.
Jeder kann sich seinen Datensatz zusammenbasteln
Und selbst wenn Wissenschaftler diese Verzerrungen nachträglich herausrechnen, dann gilt der Informationsgehalt des Kreuzchens nur für ein bestimmtes Zeitfenster. Dynamiken, Entwicklungen oder Trends im Erleben und Verhalten lassen sich mit einer normalen Laborstudie schlicht nicht erfassen. Oft muss sich die Forschung auch zurecht vorwerfen lassen, dass Studienergebnisse vorrangig auf den Daten gutbürgerlicher weißer US-Studenten beruhen – dem bevorzugten Probanden-Pool vieler Sozialwissenschaftler.
Bei Facebook aber sind ein Drittel aller Nutzer über 35 Jahre alt, und die ethnische Zusammensetzung der Probanden lässt sich so zusammenbauen, wie es für die geplante Untersuchung passt. Mehr als 70 Sprachen hat man allein zur Auswahl. Das erleichtert auch kulturvergleichende Untersuchungen, die sich sonst nur mit großem Aufwand durch die Kooperation mehrerer Universitäten bewerkstelligen lassen.
Wie begeistert Wissenschaftler aller Fachrichtungen von Facebook sind, zeigt der Psychologe Robert Wilson von der Washington University. Er fand in einer Meta-Analyse mehr als 400 Studien, die auf Daten des sozialen Netzwerkes beruhen. Die Forscher kamen aus allen Bereichen: von Jura über Ökonomie, IT, Management und Soziologie.
Waren die jeweiligen Wissenschaftler nicht Teil des Facebook-Data-Science-Teams wie Adam Kramer oder kooperierten für die geplante Untersuchung mit Facebook, dann programmierten sie Apps, die sich über eine Erlaubnis der User von außen ans Netzwerk andockten, oder rekrutierten ihre Teilnehmer traditionell offline und ließen sich dann die Zugänge zu ihrem Profil geben.
24 Prozent dieser Studien untersuchen nur die demografischen Daten der Nutzer. Sie zeigen etwa, dass der durchschnittliche Nutzer 130 Freunde hat, und eine größere Anzahl von bis zu 300 Freunden ihn für andere attraktiver erscheinen lässt. Sie zeigen auch, dass Nutzer unter 30 Jahren elfmal so viele Freunde haben wie ältere. Oder dass US-Teenies nicht nur beim Hochladen von Fotos und beim Posten privater Informationen viel unvorsichtiger sind als etwa deutsche, sondern insgesamt auch weniger emotional stabil, sozial verträglich und gewissenhaft.
Die meisten Studien beleuchten soziale Einflussnahme
19 Prozent der Studien beschäftigten sich mit der Motivation für die Nutzung des Netzwerks. Sie fanden zum Beispiel heraus, dass Facebook besonders Narzissten im mittleren Alter anlockt, dass das Anschauen des eigenen Profils selbstwertstärkend wirkt oder es einem garantiert die Laune vermiest, sich Urlaubsbilder von anderen anzusehen. Auch die Frage danach, ob Facebook einsame Menschen glücklicher macht wurde inzwischen beantwortet: Während aktives Kommunizieren auf Facebook ein gutes Mittel gegen Einsamkeit ist, verstärkt das passive Verfolgen des Newsfeeds das Gefühl eher.
In zwölf Prozent der Studien nahmen Forscher die Selbstpräsentation der Nutzer unter die Lupe. Ergebnis: Die Persönlichkeit des Nutzers wird, sofern das Netzwerk nicht beruflich, sondern privat genutzt wird, im Profil wahrheitsgemäß reflektiert – von den Fotos über die Status-Updates bis hin zu den Likes. Letztere geben zudem deutliche Hinweise auf die sexuelle Orientierung, politische Einstellung oder Religiosität.
Wie Facebook-Nutzer Chancen und Risiko abwägen, auf der sozialen Plattform Persönliches zu zeigen und zu teilen, untersuchten 18 Prozent der Studien. Diese ergaben etwa, dass noch 2005 fast die Hälfte der User ihre Adresse und Telefonnummer preisgab, während dazu zwei Jahre später nur noch zehn Prozent der neu angemeldeten Nutzer bereit waren. Das Bewusstsein für die Sensibilität privater Daten stieg also rasant.
27 Prozent der Untersuchungen beleuchteten soziale Interaktionen, allem voran soziale Einflussnahme auf Facebook. Sie zeigten eindrucksvoll, wie sich politische Einstellungen vor Wahlen von Freund zu Freund verbreiteten oder wie das soziale Netzwerk half, die Occupy-Bewegung am Laufen zu halten. Sie zeigen aber auch, wie sich vorhersagen lässt, welches Pärchen bald zusammenkommen oder sich trennen wird.
Daten sammeln und Daten manipulieren ist nicht das Gleiche
Oder, wie sich Nutzer von der Stimmung ihrer Freunde emotional anstecken lassen, wie das nun umstrittene Experiment von Adam Kramer zeigt. Bekamen die Nutzer mehr negative Posts ihrer Freunde zu sehen, tendierten sie ebenfalls zu mehr Negativität. Waren die gelisteten Posts positiv, schrieb auch der Nutzer mehr Positives. Dass gerade der lustige Vogel Kramer die Facebook-Gemeinde, aber auch Politiker, Rechtsanwälte und andere Forscher derart gegen sich aufbrachte, hatte einen guten Grund.
Seine Studie war die erste, die nicht nur bereits bestehende Daten sammelte, sondern sie bewusst manipulierte. Solche Experimente sind nicht über Facebooks Geschäftsbedingungen abgesegnet. Der Nutzer muss nicht nur darüber informiert werden, dass er an einem Experiment teilnimmt, er muss auch ablehnen dürfen – und im Fall seiner Zustimmung hinterher über die Art der Manipulation aufgeklärt werden. Nichts davon hatte stattgefunden.
Und darum hat Adam Kramer sich am vergangenen Sonntag auch entschuldigt, natürlich auf seiner Facebook-Seite. Er habe nie jemanden verärgern wollen. “Im Nachhinein aber,” schreibt er, “hat der Nutzen der Studie die große Verunsicherung unter den Nutzern wohl nicht gerechtfertigt.” Am Montag dann folgte ein offizielles Statement von Facebook: Die Richtlinien für solche Experimente seien nun geändert worden. Künftig müsse jede geplante Studie erst durch drei interne Prüfungen, bevor sie online geht.
Und auch das Journal “PNAS”, in dem die Studie erschienen war, hat sich inzwischen zu Wort gemeldet. “Es ist besorgniserregend, dass die Datenerfassung durch Facebook Praktiken umfasst haben könnte, die nicht genau unseren Prinzipien entsprechen, Nutzer über die geplante Studie zu informieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, die Teilnahme abzulehnen”, schreibt Inder Verma, Chefredakteur von “PNAS”.
Vielleicht zeigt sich am Beispiel dieser Studie, dass Facebook durchaus eine unerschöpfliche und moralisch einwandfreie Fundgrube für wissenschaftliche Forschung sein kann – solange sich Wissenschaftler dabei an dieselben Grundsätze halten wie in der Offline-Welt.
Quelle: welt.de